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Studie zu Bürgergeld: Verleiten die neuen Regeln dazu, sich keinen neuen Job zu suchen?

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Jobcenter in Berlin-Lichterfelde

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Schöning / IMAGO

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Zu den umstrittensten Reformen der Ampelkoalition gehört die Einführung des Bürgergelds im vergangenen Jahr. Die Debatte zwischen Verteidigern und Kritikern der Reform verläuft unter anderem auch deshalb so emotional, weil es bislang an belastbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirkungen fehlte.

Nun jedoch liegen solche Erkenntnisse zumindest über einen Teil der Reform vor - exakter: über die im Vergleich zum früheren Hartz-IV-System abgeschwächten Sanktionsregeln, die starken Anhebungen der Regelsätze durch den zeitnäheren Inflationsausgleich und die höheren Grenzen für Vermögen und Wohnungskosten im ersten Jahr des Bezugs. Diese Regelungen senken offenbar den Anreiz für Menschen, die bereits in der Grundsicherung sind, eine Arbeit aufzunehmen.

Das ist das Ergebnis einer Studie  des Ökonomen Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), über die zuerst die »Süddeutsche Zeitung« berichtet hatte - und die die politische Diskussion über das Bürgergeld wieder anheizen könnte.

Der Studie zufolge summiert sich dieser Effekt rechnerisch auf bis zu 30.000 Arbeitsplätze im Jahr, die unter den früheren Regelungen wohl von Grundsicherungsempfängern angetreten worden wären und nun unbesetzt bleiben. Das stellt in gewissem Sinne eine Obergrenze dar, denn unbeachtet blieb, wie viele von diesen 30.000 Arbeitsplätzen kurze Zeit später wieder frei geworden wären, weil entweder der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber die Beschäftigung wieder beendet hätten. »Das vorliegende Paper beschränkt sich auf die Frage, wie sich die Arbeitsaufnahme aus der Grundsicherung verändert hat«, sagt Autor Weber.

Das Papier zeigt gut, inwieweit sich wissenschaftlich fundierte Ergebnisse von der reinen Betrachtung von Statistiken unterscheiden. Denn die Statistiken zeigen zwei parallele Trends, die schon seit Längerem anhalten: Einerseits war die Zahl derjenigen, die von einem Arbeitsplatz in die Grundsicherung wechselten, noch nie so niedrig wie derzeit. Es scheint also nicht so zu sein, dass Niedriglöhner nun massenhaft kündigen, um vom Bürgergeld zu leben.

Wie groß ist der Effekt?

Andererseits ist aber auch die gegenläufige Bewegung viel langsamer geworden - nämlich der Anteil der Grundsicherungsempfänger, die eine Arbeit aufnehmen. Wie viel davon wiederum auf die Bürgergeldreform zurückzuführen ist, arbeitet die Studie nun belastbar heraus.

Das ist deshalb wichtig, weil die Misere bereits seit Beginn der Coronapandemie anhält. Auch in den Phasen zwischen den Lockdowns und nach der Coronakrise erholte sich die Arbeitsaufnahme von Menschen aus der Grundsicherung nicht nachhaltig. Das Bürgergeld wurde 2023 eingeführt.

In diesen Jahren ist eine Menge passiert: Die Pandemie, in der viele Menschen den Kontakt zum Arbeitsmarkt verloren; der russische Angriffskrieg ab Februar 2022, die Energiepreiskrise, eine enorm hohe Inflation, eine nun schon seit zwei Jahren andauernde konjunkturelle Stagnation sowie Hunderttausende geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer, die nun in der Grundsicherung leben. Außerdem wurde der Mindestlohn 2022 um mehr als 14 Prozent erhöht - was wiederum dazu führen könnte, dass Unternehmen weniger Jobs schaffen, die für Grundsicherungsempfänger geeignet sind.

Für all diese Effekte hat IAB-Ökonom Weber Methoden und Vergleichsdaten gefunden, mit denen sie sich herausrechnen lassen. Am Ende bleibt das Ergebnis, dass die Bürgergeldreform und der schnellere und zuletzt überschätzte Inflationsausgleich die Arbeitsaufnahme von Bürgergeldempfängern um sechs Prozent gesenkt habe. Im zweiten Halbjahr 2022 - noch vor dem Bürgergeld - waren Sanktionen von der Ampelregierung ganz ausgesetzt worden. Damals sank die Rate etwas schwächer um vier Prozent.

Was folgt nun daraus? »Die Grundidee der Bürgergeldreform, dass die Qualifizierung von Erwerbslosen für den Arbeitsmarkt eine bedeutende Rolle spielt, erscheint nach wie vor richtig, daran ändert sich auch mit diesen Erkenntnissen nichts«, sagt Studienautor Weber. »Wir müssen aber mehr Arbeitsaufnahmen und eine hohe Qualität von Jobs zusammenbringen.«

Autor warnt vor Rückkehr zu den Hartz-Regeln

Die gute Jobqualität betont Weber auch deshalb, weil er in einer anderen Studie den Effekt der harten Hartz-IV-Regelungen untersucht hatte. Diese hätten zwar tatsächlich zu mehr Arbeitsaufnahmen geführt, so Weber, aber: »Es gab auch starke Nebenwirkungen: Oft nahmen Erwerbslose schlecht passende Jobs auf, um Sanktionen zu vermeiden - Jobs, die sie bald wieder verloren. Und es nahm damit auch die Gefahr zu, dass Menschen sich ganz dem Arbeitsmarkt entfremdeten.« Zudem, sagt Weber, hatten die Hartz-Reformen »einen Einfluss auf Lohngefüge, der gerade für Geringverdiener nachteilig war«. Es gilt also, die negativen Wirkungen von Sanktionen möglichst ebenso zu vermeiden wie die negativen Wirkungen zu schwacher Sanktionen.

Nun wäre eine Rückkehr zu den Sanktionsregeln von Hartz IV bei dessen Einführung ohnehin nicht mehr möglich: Das Bundesverfassungsgericht hat sie im Herbst 2019 auf höchstens 30 Prozent des Regelsatzes gedeckelt - diese Höchstgrenze kennt auch das Bürgergeld. Allerdings wird sie nur in Zehn-Prozent-Schritten erreicht, also erst nach der dritten Sanktion und dann nur für einen Monat.

Weber plädiert dafür, statt dieser schrittweisen Sanktionierung wieder sofort 30 Prozent des Regelsatzes einzubehalten, wenn jemand zumutbare Arbeit oder Fortbildung ablehnt. Das allein würde das Problem jedoch nicht lösen. Zudem wäre es sinnvoll, die Zuverdienstregeln so zu verbessern, dass von jedem brutto zusätzlich verdienten Euro netto auch deutlich mehr in der Tasche bleibt, so Weber - also positive Arbeitsanreize zu setzen. Und nicht zuletzt sei eine »intensive individuelle Betreuung und Qualifizierung« in den Jobcentern wichtig. »Bei Langzeitarbeitslosen kommt es darauf an, mit ihnen in vielen Schritten intensiv zu arbeiten, und zwar passgenau für den Einzelfall.«

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