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Ukraine will wehrfähige Männer aus dem Ausland zurückholen

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Ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist es seit Kriegsbeginn nicht gestattet, ihr Land zu verlassen. Nach Zahlen des Ausländerzentralregisters hielten sich Ende März aber gut 256.000 solcher Männer in Deutschland auf. Wie viele davon ihre Pflicht missachten, lässt sich nicht sagen. Manche flohen mit ihren Müttern und wurden erst in Deutschland volljährig. Andere pflegen Angehörige, haben eine Behinderung oder erfüllen ein anderes Kriterium, das sie von der Pflicht zu dienen entbindet. Die Zahl derer, die nach dem Willen der ukrainischen Regierung kämpfen sollte, dürfte dennoch hoch sein.

Diese Männer lösen gemischte Gefühle aus. In der Ukraine werden sie dringend gebraucht, an der Front, aber auch in Fabriken und Kohlegruben. Sie werden als Verräter beschimpft, aber auch als Söhne, Männer, Enkel gesehen, die in Sicherheit sind. Hierzulande fragen manche: Muss Deutschland zusätzlich zu den Milliarden an Militärhilfe für die Ukraine auch noch deren Fahnenflüchtige versorgen? Andere fragen: Wie könnte man jemanden dafür verurteilen, dass er nicht im Krieg sterben will?

Olha sah ihren Mann schon an der Front

Kiew sucht selbst noch nach dem richtigen Ton. In der hitzigen Debatte über das Mobilisierungsgesetz, das unlängst das Parlament passiert hat, gerieten auch die Männer im Ausland in den Fokus. Im Dezember rief Verteidigungsminister Rustem Umjerow in der „Bild"-Zeitung zur Heimkehr auf; er sprach von einer „Einladung". Ende April meldete sich dann Außenminister Dmytro Kuleba auf der Plattform X zu Wort und kündigte an, Männern im Ausland konsularische Leistungen zu verwehren. Er schrieb: „Ein Mann im wehrfähigen Alter ist ins Ausland gegangen, zeigte seinem Staat, dass ihn dessen Überleben nicht kümmert, und dann kommt er und will eine Leistung von diesem Staat. So funktioniert das nicht. Unser Land ist im Krieg."

Wandte sich auf die X an die Auslandsukrainer: Außenminister Dmytro KulebaReuters

Bald will Kiew weitere Details bekannt geben. Zumindest vorerst trifft die Regelung aber jeden Mann im wehrfähigen Alter: jene, die illegal ausgereist sind, aber auch jene, die seit 15 Jahren als Gastarbeiter in Polen sind oder einen der vielen Ausnahmegründe erfüllen. Tolik zum Beispiel hat drei Kinder, was ihn vom Dienst befreit. Seine Frau Olha erzählt, Kulebas Ansage habe die Familie trotzdem verängstigt. Sie sah ihren Mann schon an der Front. Eine Rückkehr ist für die beiden Mittvierziger keine Option. „Ich habe gehört, dass Männer mittlerweile gar nicht mehr aus dem Land gelassen werden", sagt sie. Im Ankunftszen­trum im ehemaligen Flughafen Berlin-Tegel verbreiten sich Gerüchte schnell.

Auf einer Parkbank in der Nähe der Unterkunft erzählen Olha und Tolik, die wie alle Flüchtlinge in dieser Geschichte in Wahrheit anders heißen, wie ihnen eine freiwillige Helferin dann aber erklärte, dass sich fehlende oder abgelaufene Dokumente nicht auf ihr Aufenthaltsrecht auswirkten. Das betonen so auch die deutschen Behörden.

Folgenlos ist die neue Regelung trotzdem nicht. Davon weiß Ihor zu berichten, der ebenfalls in Berlin lebt. Er hat die ­Ukraine verlassen, indem er sich an einer ausländischen Hochschule einschrieb, an der er dann gar nicht studierte. Inzwischen reicht das nicht mehr, um rauszukommen. Deshalb kann Ihor auch nicht wie Tolik darauf hoffen, dass alles schon werden wird, wenn Kiew die Neuregelung erst präzisiert. Er ist jetzt einer der Männer, derer die Regierung habhaft werden will. Das bringt seine Lebensplanung durcheinander. Sein Pass läuft zwar erst im Jahr 2027 aus, so wie bei vielen seiner Landsleute, weil die Ukraine seit 2017 biometrische Pässe ausgibt, die zehn Jahre gültig sind. Ihors Pass hat aber keine freie Seite mehr für ein Visum. Und das benötigt er, weil er nach Amerika weiterziehen möchte.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Alle Ukraineflüchtlinge, mit denen die F.A.S. gesprochen hat, verstehen, dass Kiew neue Wege suchen muss, um die Zahl der Soldaten zu erhöhen. Aber keiner glaubt, dass die Regierung mit Druck auf Auslandsukrainer irgendetwas erreichen wird. In den europäischen Partnerländern ist man darüber geteilter Meinung. Nach Kulebas Post auf X ließ der polnische Verteidigungsminister wissen, sein Land könne Maßnahmen ergreifen, um Zehntausende Ukrainer in ihre Heimat zurückzuführen. Monate vorher sagte der estnische Innenminister über Ukrainer in seinem Land: „Wenn die Ukraine es braucht, kann Estland diese Personen finden und sie an die Ukraine ausliefern."

In Deutschland gab es nur eine kurze Diskussion. Nach dem Interview von Minister Umjerow forderte der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter, den betreffenden Männern das Bürgergeld zu kürzen. Justizminister Marco Buschmann von der FDP räumte das Thema aber ab. „Dass wir nun Menschen gegen ihren Willen zu einer Wehrpflicht oder zu einem Kriegsdienst zwingen, das wird nicht der Fall sein", sagte er. Niemand könne zum Kriegsdienst gezwungen werden.

Die deutschen Behörden könnten Männern wie Ihor nach Kiews Passentscheidung leicht helfen, indem sie ihnen Ersatzpapiere ausstellen. Roman Poseck, der hessische Innenminister von der CDU äußerte sich dazu am Wochenende. Dem ARD-Magazin „Bericht aus Berlin" sagte er: „Ich bin skeptisch, weil ich nicht sehe, dass die Voraussetzungen dafür vorliegen. Die Ukraine ist kein Unrechtsstaat." Ebenfalls in der ARD antwortete der Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter von den Grünen. Er sprach von einer „ganz schwierigen Dilemma-Entscheidung". Mit Blick auf das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sagte er aber, am Ende sei es sinnvoll, wenn Deutschland Ersatzpapiere ausstelle. Nach Informationen der ARD will Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) darüber am Dienstag mit den Innenministern der Länder sprechen.

In Berlin schweigt man lieber

Wer in der Bunderegierung unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklungen mehr erfahren möchte, bekommt kaum Auskunft. Offenbar ist man darum bemüht, das Thema gar nicht erst wieder hochkommen zu lassen. Die Solidarität in der Gesellschaft mit den inzwischen rund 1,16 Millionen Ukraineflüchtlingen muss schließlich nicht auf alle Zeiten groß bleiben. Zumal zunehmend Männer kommen - und die Integration der Ukrainer in den Arbeitsmarkt schleppend läuft. Im Mai 2022, knapp drei Monate nach Kriegsbeginn, waren laut Ausländerzentralregister 19 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge aus der Ukraine männlich; inzwischen sind es 36 Prozent. Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit empfingen im Januar mehr als 133.000 ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren Bürgergeld.

Die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj weiß offenbar, dass von Deutschland keine Hilfe zu erwarten ist. Aus der ukrainischen Botschaft wie aus der Bundesregierung heißt es, Kiew habe in dieser Angelegenheit keine Wünsche formuliert. Und ob die Minister aus Polen und Estland mehr als nur Lippenbekenntnisse abgegeben haben, muss sich erst noch zeigen - hier stehen Ukraineflüchtlinge unter demselben Schutzstatus wie in der übrigen EU. So spricht einiges dafür, dass es Kiew gerade vor allem um ein Si­gnal nach innen geht.

Selenskyj ist bekannt dafür, auf Stimmungen in der Bevölkerung zu reagieren. Gerne mit Maßnahmen, die konsequent wirken, aber bisweilen am Problem vorbeigehen. Als sich Unmut breitmachte, weil sich Berichte über Korruption in den Einberufungsämtern häuften, entließ der Präsident alle Regionalchefs - obwohl die Vorwürfe nicht in allen Gebieten gleichermaßen aufkamen. Die Passentscheidung ist wieder so ein Fall. Dieses Mal könnte sich der Präsident aber verkalkuliert haben.

Nimmt Stimmungen in der Gesellschaft auf: Präsident Wolodymyr Selenskyj mit SoldatenAFP

Die Wut über die Maßnahme ist allgegenwärtig. Man spürt sie zum Beispiel bei Maxim, einem 42 Jahre alten Ukrainer, der sich am dritten Kriegstag in Kiew mit seiner Familie ins Auto gesetzt hat und seit zwei Jahren in Frankfurt lebt. „Die Regierung macht es damit nur schlimmer", sagt er. „Wer vorher noch unsicher war, ob er in die Ukraine zurückkehren soll, entscheidet sich spätestens jetzt dagegen." Das sehen auch Beobachter in der Ukraine so. Oleksandr Pawlitschenko von der Helsinki-Menschenrechtsunion spricht außerdem von einem „Generalverdacht" gegen die Auslandsukrainer. Der F.A.S. sagte er: „Das verschlechtert lediglich die Beziehungen zu den Landsleuten im Ausland." Doch auch diese leisten einen Beitrag zum Überlebenskampf des Staates. Rücküberweisungen sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. „Allein 2022 schickten Auslandsukrainer zwölf Milliarden Dollar in die Heimat, 2023 waren es 11,5 Milliarden Dollar", sagt Pawlitschenko.

Schon jetzt spaltet sich die ukrainische Gesellschaft zusehends. Das nagt an der Moral der Soldaten. Während die einen ununterbrochen den Kopf hinhalten, führen andere in den Städten fern der Front ein weitgehend normales Leben. Zwischen funkelnden Food Courts in Kiew und zerbombten Dörfern im Donbass liegen Welten. Zwischen der Ukraine und dem Westen, wo manche jetzt besser leben als je zuvor, Galaxien. Immer wieder hört man Ukrainer sagen, dass sie früheren Freuden nichts mehr zu sagen hätten. Man sei sich fremd geworden.

Maxim musste sich Schlimmeres anhören. Männer, mit denen er zehn Jahren befreundet war, nennen ihn einen „Feigling" und ignorieren seine Anrufe. Dabei ist er als Vater von drei minderjährigen Söhnen und einer erwachsenen Tochter legal ausgereist. Die Zeit, in der er den Dienst mit dem Segen seiner Regierung verweigert, läuft allerdings ab. Kommendes Jahr wird sein ältester Sohn 18, er hat dann nur noch zwei minderjährige Kinder - und er und sein Ältester gehören auch zu denen, die Kiew haben will. Für Maxim ändert das nichts: Er will nie wieder in die Ukraine zurückkehren.

Tolik legt Wert darauf, dass er kein Drückeberger sei

Fragt man Maxim, Ihor und Tolik, wie sie mit dem gesellschaftlichen Druck umgehen, mit dem Wissen, dass ihr Land sie eigentlich braucht, hat darauf jeder seine eigene Antwort. Tolik, der Familienvater in Berlin, legt Wert darauf, dass er kein Drückeberger sei. Geflohen seien sie, damit die Kinder „etwas im Magen" haben. Auf dem Bau, wo er in der Ukraine gearbeitet hat, gab es nach Kriegsbeginn keine Aufträge mehr. Zu Beginn der Invasion habe er sogar fast einen Vertrag mit der Armee unterzeichnet. „Es hat mich damals viel Kraft gekostet, ihn davon abzubringen", sagt seine Frau.

Ihor, der vorgebliche Student, sagt wiederum, dass er einfach nicht kämpfen wolle, aber seinen Beitrag weiterhin auf andere Weise leiste, mit Spenden und Hilfsprojekten. Und Maxim, der in Frankfurt ehrenamtlich anderen Flüchtlingen hilft, beginnt zu reden wie ein Berater. Er hat einen Abschluss in IT, einen in Recht und einen in Wirtschaft, in der Ukraine hat er es zu etwas gebracht. Er betrachte die Dinge wie ein „Businessman". Er an der Front, das wäre Ressourcenverschwendung. Zu Beginn des Krieges, als er noch mehr Geld übrig hatte, habe er auf eigene Kosten Ausrüstung für Freunde in der Armee beschafft. Er sagt: „Das ist effektiver, als wenn ich selbst an die Front gehe und dort sterbe."

Noch etwas ist Maxim wichtig. Wenn er erklärt, warum er niemals an die Front gehen wird, dann spricht er nicht viel über das Töten und Sterben. Dann erzählt er von den Problemen in der Ukraine, von der Korruption und den vielen anderen Dingen, die seiner Meinung nach schieflaufen in diesem Staat. „Ich war auf einer Privatschule, alle meine Kinder waren auf Privatschulen, wir waren bei Privatärzten", sagt er. „Ich bin diesem Land nichts schuldig."

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