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Massenschlüpfen der Zikaden: Biblisches Spektakel im mittleren Westen der USA

Original source (on modern site)

In Amerika schlüpfen manche Bruten von Singzikaden alle 13 Jahre, andere alle 17 Jahre. Zum ersten Mal seit 221 Jahren treten zwei von ihnen gemeinsam auf. Es ist ein Spektakel biblischen Ausmasses.

Die Invasion ist in vollem Gang. Billionen von Zikaden suchen in diesen Tagen die USA heim. Aus mehreren Gliedstaaten werden Massen von krabbelnden, torkelnden, flatternden, kopulierenden und rasselnden Zikaden gemeldet. Vor allem der penetrante Lärm der Insekten bringt viele Amerikaner um den Schlaf oder treibt sie gar in den Wahnsinn. Dem Mittleren Westen und einigen Südstaaten steht nun eine historische Plage bevor, denn erstmals seit 221 Jahren schlüpfen zwei Bruten der mysteriösen Singzikaden gleichzeitig.

Das Massenschlüpfen ist ein Spektakel biblischen Ausmasses - und das erstmals im digitalen Zeitalter. Beinahe jede Zikade wird gepostet, jeder Lebenszyklus der Gattung Magicicada massenhaft festgehalten.

Lebenszyklus der periodischen Singzikaden

Und so sieht man im Netz unzählige amerikanische Vorgärten, von Zikadenteppichen bevölkert, hört das typische Rasseln von an Bäumen hängenden Exemplaren, entdeckt Kinder, die Zikaden genussvoll zertreten, und staunt über Erwachsene, die sie ebenso genussvoll verzehren, während sie kauend über ihre beliebtesten Zubereitungstipps informieren. Hoch im Kurs: Zikaden-Barbecue.

Über die kulinarischen Zikaden-Vorlieben aus dem Jahr 1803 ist hingegen nichts überliefert. Als letztmals zwei Bruten gleichzeitig schlüpften, war Thomas Jefferson Präsident, und Napoleon hatte halb Europa besetzt. Frühe Entomologen hielten die Zikaden zwar fälschlicherweise noch für Heuschrecken, sammelten aber schon erstaunliche Erkenntnisse über die mysteriösen Insekten, die alle paar Jahre wie aus dem Nichts massenhaft aus der Erde krochen und wenige Wochen später wieder für viele Jahre verschwanden.

Heute sind die Singzikaden deutlich besser erforscht, aber dennoch ein Mysterium geblieben. Wie sie genau unter der Erde leben und warum sie nach einer so langen Zeit immer zu bestimmten Terminen zum Vorschein kommen, ist unklar. Ihr ohrenbetäubendes Rasseln, das Entomologen seltsamerweise als Gesang bezeichnen, erzeugen die männlichen Zikaden mithilfe eines speziellen Trommelorgans im Hinterleib, des sogenannten Tymbals.

Das Trommelorgan der männlichen Singzikaden

Damit locken sie paarungswillige Partnerinnen an. Im Wettbewerb um die besten Weibchen überbieten sich die Männchen in ihrem Werberasseln, die vibrierende Membran im Trommelorgan ermöglicht Lautstärken von bis zu 120 Dezibel. Singzikaden sind also so laut wie ein Presslufthammer oder ein dröhnendes Motorrad - und damit in den Damenwelt äusserst erfolgreich.

Keine Gefahr für Bäume

Zikaden sind mit Wanzen und Pflanzenläusen verwandt und gehören zur Ordnung der Schnabelkerfe, weltweit sind 45 000 Arten bekannt. Von den wärmeliebenden Singzikaden sind 3400 Arten bestimmt, davon 61 in Europa, die überwiegend im Mittelmeerraum vorkommen und mit ihrem Zirpen als Sound des Sommers gelten.

Singzikaden werden zwei bis vier Zentimeter gross und saugen den Zuckersaft der Pflanzen. Für den Menschen sind sie völlig harmlos. Sie stechen nicht, sie beissen nicht, übertragen keine Krankheiten und fressen auch keine Felder kahl wie Heuschrecken. Trotz ihrem massenhaften Auftreten werden sie in der Regel auch keine Gefahr für Bäume, wenn sie deren Nährstoffe aus den Blättern saugen. Sie können nur sehr lästig sein.

Den Grossteil ihres Lebens verbringen die Singzikaden aber ohnehin unter der Erde, meist 2 bis 5 Jahre. Von allen 3400 Singzikaden in der Welt gibt es nur 9 Arten, die einem bestimmten Zyklus gehorchen und für einen längeren Zeitraum im Boden bleiben, ehe sie synchron an die Oberfläche kommen. 7 davon leben in den USA, die Magicicada. Sie werden als periodische Zikaden bezeichnet, ihr Lebenszyklus ist einmalig in der Insektenwelt.

Fünfzehn Bruten dieser Magicicada sind in den USA nachgewiesen, ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich von den Grossen Seen bis in die Südstaaten, einige Gebiete überlappen sich. Drei Bruten kommen alle 13 Jahre zum Vorschein, sie liegen vor allem im Süden der USA, die anderen zwölf Bruten krabbeln alle 17 Jahre aus Erdlöchern. Von den 7 bekannten Arten in den USA krabbeln 4 im 13-jährigen Zyklus empor und 3 im 17-jährigen Zyklus.

Äusserlich unterscheiden sich die insgesamt 7 Arten mit ihren blutroten Augen und dem schwarzen Exoskelett kaum, doch Grösse, Gesang und Farbe können variieren. Durch die verschiedenen Primzahlzyklen überschneiden sich die Termine nur alle 221 Jahre.

Historischer Massenevent

Dieses Jahr ist es nun wieder so weit, es schlüpfen die Bruten XIII und XIX. Erstere hat einen 17-jährigen Zyklus und lebt in den Gliedstaaten Illinois und Iowa, Letztere gehorcht einem 13-jährigen Zyklus und ist in Georgia, Alabama, Texas, North und South Carolina, Missouri, Tennessee und eben auch in Iowa und Illinois beheimatet.

Wo die Singzikaden auftauchen

Vor allem in Illinois werden sich die beiden verschiedenen Bruten überschneiden, alle 7 Arten treffen aufeinander - und möglicherweise werden sie sich untereinander paaren. Neue Arten oder Bruten könnten entstehen. Deshalb fokussieren sich die Entomologen vor allem auf diesen Gliedstaat im Mittleren Westen, um die Superorgie genauer unter die Lupe zu nehmen. Auf diesen historischen Massenevent warten sie seit Jahren.

Doch noch hat die Invasion in den USA nicht ihren Höhepunkt erreicht, vor allem nicht in Illinois. Während der 13 oder eben 17 Jahre, die die Magicicada als Nymphen im Untergrund verbrachten, haben sie den Saft aus Gras-, Stauden- oder Baumwurzeln gesaugt, gut geschützt in dreissig Zentimetern Tiefe. Viermal haben sie sich in dieser Zeit gehäutet und so ihr späteres Aussehen angenommen.

Forscher gehen davon aus, dass sie in der Lage sind, die Jahre aufgrund der Nährstoffzusammensetzung des Baumsafts zu zählen. Für ihren langen Aufenthalt in der Erde existieren unterschiedliche Theorien. Eine besagt, dass sie sich während der Eiszeiten entwickelten und sie deshalb einen langsameren Zyklus annahmen, eine andere, dass sie so viele Jahre unten bleiben, um den nährenden Baum nicht zu überfordern. Aber weil Beobachtungen unter der Erde schwierig sind, weiss man bis heute nicht, was sie genau unter der Erde tun und warum sie so lange da unten bleiben.

Sobald sich der Boden auf 18 Grad erwärmt hat, kriechen die Insekten aus ihren zylinderförmigen Erdgängen. Innerhalb weniger Tage krabbelt die gesamte Population gleichzeitig aus der Erde. Millionen Exemplare kriechen pro Hektare an die Oberfläche. Wie Zombies marschieren sie zu den Bäumen, um an ihnen hochzukrabbeln, häuten sich ein letztes Mal - und nehmen ihre erwachsene Form mit Flügeln an.

Evolutionärer Überlebenstrick

Leere Aussenskelette bedecken nun Böden und Baumstämme, bis zur vollständigen Verpuppung ist die Singzikade weich und äusserst wehrlos - und damit leichte Beute für alle Räuber wie Vögel oder Kleinsäuger. Später härtet das Skelett der Zikade aus und nimmt die typische Form an, als Festmahl taugt sie aber immer noch. Etwas tollpatschig flattert das Insekt nun in die Baumkrone, um einen Partner zu finden. Grössere Schäden an den Bäumen hinterlassen die Insekten im Gegensatz zu Heuschrecken selten.

Die Superinvasion der Singzikaden in den USA ist ein evolutionärer Überlebenstrick. Denn wenn auch Milliarden Individuen auf der Strecke bleiben, wird das Überleben der Population wegen der schieren Masse an Individuen gewährleistet. Die Strategie ist, so viele Exemplare wie möglich gleichzeitig an die Oberfläche zu bringen, damit sich die Räuber daran regelrecht überfressen.

Die überlebenden Männchen beginnen nach einigen Tagen zu singen und um die Weibchen zu werben. Die Weibchen antworten mit einem Schnalzlaut, den sie mit den Flügeln erzeugen - und kommen herangeflattert. Und dann beginnt eine veritable Orgie, die in der Insektenwelt beispiellos ist.

400 bis 600 Eier legt jedes Weibchen und lagert sie unter die Rinde ein, die sie zuvor mit einer Art Stachel aufschlitzt. Nach einigen Wochen schlüpfen die Larven, fallen von den Ästen herab und graben sich in den Boden ein. Dort hängen sie sich an eine Wurzel und saugen Saft - und bleiben für 13 oder 17 Jahre unsichtbar im Erdreich.

Die erwachsenen Tiere sterben bald, die Invasion der Singzikaden geht so plötzlich zu Ende, wie sie begann. Schon im Juli ist häufig alles vorbei. Zurück bleiben Milliarden Aussenskelette und Insektenkadaver, eine furchtbar stinkende Masse in der Sommersonne. Aber immerhin ist alles wieder ruhig. Der Lärm der Zikaden verstummt für viele Jahre.

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