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Passiert so nur alle 221 Jahre: Rätselhafte Plage hat begonnen - „Niemand, der lebt, wird das nochmal erleben"

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Stand: 24.05.2024, 19:07 Uhr

Von: Armin T. Linder

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Niemand, der am Leben ist, könne dieses Phänomen noch einmal erfahren, meint ein Experte: Eine bemerkenswerte Plage, wie es sie nur alle 221 Jahre gibt, hat begonnen.

Washington - Ein Phänomen, das in dieser kombinierten Form nur alle 221 Jahre auftritt, beschäftigt dieser Tage nicht nur die Wissenschaft. Auch Millionen Menschen in den USA haben damit zu tun, ob sie nun wollen oder nicht. So mancher leidet an dem ekligen Anblick oder einfach nur an dem Lärm. Andere hingegen sind fasziniert.

Die Rede ist von einer monströsen Zikaden-Plage. Die Tiere sind laut, sexuell erregt und ziehen etwa einen Monat lang durch Wälder und Vorstadtgärten in den USA. Unzählige Zikaden krabbeln dieser Tage aus der Erde, wo sie jahrelang als Larven gelebt haben. Dieses Jahr fallen erstmals seit 1803 zwei Ereignisse zusammen: Es kommen sowohl jene Zikaden aus der Erde, die sich nur alle 17 Jahre zeigen, auch als jene mit einem 13-Jahres-Rhythmus.

Zikaden in den USA: Warum kommen sie immer in Primzahl-Abständen?

Weltweit gibt es mehr als 3000 Zikadenarten. Den Großteil ihres Lebens verbringen die kleinen Insekten als Larven in der Erde. Erst wenn sie ausgewachsen sind, kommen sie an die Erdoberfläche, um sich zu paaren. Bei vielen Zikadenarten geschieht dies im jährlichen Rhythmus, bei anderen nur alle 13 oder 17 Jahre. Wissenschaftler rätseln schon seit langem, wieso Zikaden in Primzahl-Abständen ans Tageslicht kommen, eine offensichtliche evolutionsbiologische Erklärung dafür gibt es nicht.

Auch Insektenforscherin Zoe Getman-Pickering rätselt im Spiegel-Interview - und erklärt, welche möglichen Ansätze es in der Wissenschaft gibt. „Eine Theorie besagt, dass sich die Zikaden während der Eiszeiten entwickelten. Damals wuchsen die Pflanzen, die überlebten, sehr langsam. Daher haben auch die Zikaden diese sehr langsame Lebensweise entwickelt", so die Expertin. „Eine andere Theorie fußt auf ihrer schieren Anzahl. Wenn eine Milliarde Zikaden den Saft aus den Bäumen saugen, kann das die Bäume beschädigen. Stirbt aber der Baum, sterben auch die Zikaden. Sie müssen also genug Saft aufnehmen, um zu wachsen, aber den Baum nicht zu töten. Daher das langsame Wachstum."

Das Spektakel wird von einem ohrenbetäubenden Lärm der vielen paarungsbereiten zirpenden Zikadenmännchen begleitet. So berichtete das Sheriff-Büro von Newberry in South Carolina kürzlich auf Facebook: „Es gab einige Anrufe wegen eines Lärms in der Luft, der wie eine Sirene oder ein Heulen oder ein Getöse klingt."

Zikaden in den USA: Sie sorgen für unglaubliche Lautstärke - „Lasst sie verschwinden"

Es wird dabei richtig laut! „In Gebieten mit hoher Konzentration, wenn alle Männchen gleichzeitig zirpen, kann es bis zu 110 Dezibel laut werden, was nahe am Lärmpegel einer Flugzeugturbine ist", erklärt der Entomologe Floyd Shockley vom Smithsonian Naturkundemuseum in Washington der Deutschen Presse-Agentur. „Wenn ich in einem Gebiet mit hoher Zikaden-Konzentration bin, nutze ich oft Ohrstöpsel, weil das nahe an einem Level ist, bei dem Gehörschäden entstehen." Experten vergleichen schon das Zirpen einer einzelnen männlichen Zikade mit dem Lärm eines Rasenmähers oder eines Motorrads. 

„Lasst diese Zikaden verschwinden", schreibt ein Nutzer bei X zu einem Video, dessen Echtheit nicht zu bestätigen ist. „Sie sind momentan lauter als ein Rockkonzert." Auch weitere, ebenfalls unbestätigte Aufnahmen zeigen große Mengen der Tiere. „Die Zikaden sind hier! Wow!", heißt es etwa zu dieser:

Dieses Jahr sei besonders bedeutend, weil es zwei riesige Schwärme etwa zur gleichen Zeit geben werde, unterstreicht auch Forscher Shockley. Diese Kombination, inklusive wahrscheinlich einer kleinen geografischen Überschneidung der Schwärme, habe es zuletzt vor 221 Jahren gegeben, also 1803. „Niemand, der heute am Leben ist, wird das nochmal erleben", betont er.

In den Jahren 2037 beziehungsweise 2041 werden zwar die nächsten Generationen der sogenannten Brut XIX und Brut XIII schlüpfen. Doch die Kombination 2024 ist äußerst ungewöhnlich. Der größte Schwarm zyklisch auftretender Zikaden, die sogenannte Brut XIX (römisch 19), schlummerte 13 Jahre unter der Erde, die Brut XIII (13) sogar 17 Jahre. Damals regierte in den USA noch George W. Bush als Präsident, 2007 war auch das Jahr, in dem das erste iPhone auf den Markt kam.

Mehr als eine Billion Zikaden in den USA erwartet

Experte Shockley geht davon aus, dass in den 17 betroffenen US-Bundesstaaten von April bis Juni über eine Billion Zikaden schlüpfen dürften, also mehr als 1000 Milliarden. „Es dürften auf jeden Fall mehr als eine Billion werden, vielleicht mehrere Billionen." Auch Forscher der Universität von Connecticut gehen für dieses Jahr von mehreren Billionen Zikaden aus. Die Insekten werden sich vor allem in Waldgebieten niederlassen, eher weniger auf landwirtschaftlichen Flächen oder in städtischen Grünanlagen. Wenn man von etwa einer Billion Zikaden ausgehe und die jeweils zwei bis drei Zentimeter langen Insekten aneinander ketten würde, ergäbe sich eine schier endlose Kette. „Sie würde mehrere Male zum Mond und zurück reichen", schätzt Shockley. 

„Wenn sie herauskommen, dann in großer Zahl", sagt der Insektenkundler Gene Kritsky von der Mount St. Joseph University. Er hat eine Zikaden-Safari-App entwickelt, mit deren Hilfe Hobby-Wissenschaftler zur besseren Erforschung der rotäugigen Insekten beitragen sollen. Den Reiz der Zikaden erklärt Kritsky auch damit, dass sich Menschen oft noch genau an ihr vorheriges scharenweises Auftreten erinnern können und damit persönliche Erinnerungen verbinden.

Und außerdem sei es schön zu sehen, wie sich eine Vorhersage erfülle. „Das macht Wissenschaft aus: Man stellt eine Hypothese auf, die zu Vorhersagen führt", sagt der Entomologe. Und wenn sich diese Vorhersagen erfüllten, sei dies „etwas Wertvolles in diesen Zeiten, in denen manche Menschen glauben, sie könnten die Wissenschaft missachten".

Zikaden in den USA: „Die schiere Menge, in der sie schlüpfen, ist die Überlebensstrategie"

Dass Zikaden in riesigen Scharen auftreten, erklärt der Biologe John Lill von der George Washington University damit, dass die einzelnen Tiere praktisch wehrlos und leichte Beute für Vögel, Schildkröten, Waschbären und andere Raubtiere sind. So erläutert es auch Expertin Getman-Pickering im Spiegel: „Die schiere Menge, in der sie schlüpfen, ist die Überlebensstrategie der Zikaden. In diesen Massen können sie nicht alle von Vögeln, Eichhörnchen, Hunden oder Waschbären aufgefressen werden."

Alle paar Jahre kommt es in den USA zu einem biologischen Schauspiel: Milliarden Zikaden kriechen aus der Erde. © Carolyn Kaster/AP/dpa

Lill hat kürzlich mit Kollegen eine Studie im Fachblatt „Science" über die Auswirkungen der Zikadenschwärme auf das Ökosystem veröffentlicht. So führte 2021 das Auftreten von Brut X in der Hauptstadt Washington zu einer Zunahme von insektenfressenden Vögeln. Da die Vögel sich gerne an den massenhaft auftretenden Zikaden satt fraßen, blieben mehr Raupen übrig. Dies führte wiederum dazu, dass mehr Eichentriebe von Raupen gefressen wurden.

Andere neue Forschungsarbeiten ergaben, dass Eichen genau zwei Jahre nach dem Durchzug von Zikaden besonders viele Eicheln hervorbringen. Dadurch gibt es mehr Säugetiere, die sich von den Eicheln ernähren, wie etwa Wildschweine. Und dies erhöht wiederum für Menschen das Risiko, an der von Zecken übertragenen Lyme-Borreliose zu erkranken. Dies zeige, dass die ökologischen Auswirkungen des Auftretens von Zikaden noch Jahre nach ihrem Verschwinden andauern können, sagt Lill.

Andererseits sind auch die Zikaden stark von Umwelteinflüssen abhängig. Laut der Evolutionsbiologin Chris Simon von der University of Connecticut droht der Klimawandel, die innere Uhr der Zikaden durcheinander zu bringen. Sie rechnet damit, „dass mehr 17-Jahres-Zikaden dauerhaft zu 13-Jahres-Zikaden werden".

Die Veränderungen der Natur durch den Menschen hat für die Zikaden mitunter aber auch positive Auswirkungen. So bieten die gut beleuchteten Bäume in den Vorstadtgärten ihnen optimale Bedingungen für die Eiablage. Wenn die erwachsenen Tiere sterben, schlüpfen aus den Eiern Zikadenlarven, fallen von den Bäumen und graben sich in die Erde, so dass der Kreislauf von Neuem beginnt.

Eine Zikade nahe der University of North Carolina in Chapel Hill am 1. Mai. © SEAN RAYFORD/AFP

Zikaden in den USA: Letzte große Welle gab es 2023

Die letzte größere Zikaden-Welle hatte es 2021 gegeben, als Brut X geschlüpft war. 2024 soll sich diese von den südlichen US-Bundesstaaten in den Norden und hin zur Ostküste ausbreiten. Spätestens im Juni dürfte es auch in Illinois im Norden der USA richtig losgehen: Im Südteil des Bundesstaats wird sich die Brut XIX ausbreiten, in der Nordhälfte und den anliegenden Bundesstaaten die Schwärme der kleineren Brut XIII, die auch als Nördliche Illinois Brut bekannt ist.

Auf die Fläche von etwa einem halben Fußballfeld könnten in manchen Gebieten Experten zufolge mehr als eine Million Zikaden kommen. „In Teilen Chicagos mussten sie das letzte Mal, als die Brut XIII geschlüpft war, Straßen und Gehwege mit Schaufeln von den toten Zikaden befreien", schildert Shockley. Für Faszination diesseits des Großen Teichs sorgen derzeit die Polarlichter über Deutschland. (AFP/dpa/lin)

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