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Autorin Ronya Othmann über Protest, Propaganda und den Gaza-Krieg

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Die Schriftstellerin Ronya Othmann plädiert dafür, in der Diskussion über den Nahostkonflikt genau hinzuschauen. Terror, Gewalt und Islamismus dürften nicht ausgeblendet werden.

Sie wurde als Zionistin diffamiert, weil sie über die Vergewaltigungen der Hamas geschrieben hat: die Autorin und Journalistin Ronya Othmann.

Paula Winkler

Ronya Othmann ist eine unerschrockene Schriftstellerin, eine «Zeugin der Trümmer», wie sie sagt. Die Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-jesidischen Vaters stellt sich den ungeheuerlichen, grausamen Verbrechen, welche die Terrormiliz IS 2014 an den Jesiden begangen hat. Die Arbeit an ihrem Buch «Vierundsiebzig» habe sie an ihre Grenzen gebracht, sagt die Autorin beim Treffen in Basel. Ihre Gespräche mit Überlebenden, ihre Suche nach einer Sprache für das Unvorstellbare haben sie wachsam gemacht.

Ronya Othmann, derzeit werden an Universitäten auch in der Schweiz Slogans wie «Stop genocide in Gaza» gerufen. Was denken Sie, wenn Sie das Wort «genocide» hören?

Ronya Othmann: Das Wort «genocide» wurde schon kurz nach dem Massaker vom 7. Oktober verwendet. Der Begriff hat eine juristische Dimension, es gibt eine klare Definition. Es ist unbestritten, dass die Lage für die Zivilisten in Gaza schrecklich ist und es Anzeichen für Kriegsverbrechen gibt. Aber das ist noch kein Genozid.

Was bedeutet «Genozid» genau?

Ein Genozid hat das erklärte Ziel der Vernichtung einer Gruppe. Bei den Massakern des IS an den Jesiden konnte die Vernichtungsabsicht nachgewiesen werden.

Wie hat sich das gezeigt?

Es war nicht so, dass der IS einfach Landstriche erobert hat und Leute ermordet hat. Der IS ist systematisch vorgegangen, in jedem Dorf wurden die Leute versammelt, meistens in der Schule. Die Männer wurden von den Frauen getrennt, erschossen und in Massengräber verscharrt. Die älteren Frauen haben sie teilweise auch erschossen und die Frauen und Kinder verschleppt. Mädchen ab neun Jahren und Frauen wurden vergewaltigt. Auch dass man die Kinder aus der Gemeinschaft genommen und die Jungen zwangskonvertiert hat, ist ein Indiz. Da steckt eine Systematik dahinter. Der IS hat aus seiner Absicht, die Jesiden auszulöschen, kein Geheimnis gemacht. Im Kontext von Gaza dagegen verübte die Hamas dieses Massaker, und nun führt Israel einen Krieg mit dem Ziel, die Hamas zu besiegen. Das ist keine Vernichtungsabsicht.

Warum ist es wichtig, so genau zu unterscheiden?

Weil das Wort «Genozid» politisch verwendet wird. Es soll für das Allerschlimmste stehen. Natürlich kann und muss man Israels Militäroperation kritisieren. Aber eine Gruppe gezielt zu vernichten, ist etwas anderes. Wenn man sagt, in Gaza geschehe ein Genozid, dient der Begriff dem Narrativ, dass die einstigen Opfer die heutigen Täter seien. Aber nicht Israel, sondern die Hamas hat eine Vernichtungsabsicht. In ihrer Charta steht, dass Israel vernichtet werden soll. Ihr Massaker war systematisch und hat mich an das Vorgehen des IS erinnert.

Wie lassen sich die Verbrechen der Hamas mit denen des IS vergleichen?

Die Hamas hat die Kibbuzim sehr früh am Morgen angegriffen. Zivilisten werden überfallen, wenn sie noch schlafen. Sie werden vergewaltigt, als Geiseln genommen oder getötet. Die Hamas-Terroristen gingen systematisch von Haus zu Haus, wie der IS in den jesidischen Dörfern. Auch dort wurden Menschen aus dem Schlaf gerissen, vergewaltigt, verschleppt, getötet. Die Hamas war vorbereitet. Sie hat Zettel mit Botschaften auf Hebräisch hinterlassen. Auch die Vergewaltigungen waren systematisch. Analog zum IS hat die Hamas Videos aufgenommen. Sie haben das Handy der Opfer genommen und auf deren Facebook-Seite die Hinrichtung gestreamt, die Gewalt medial zelebriert.

Trotzdem wurde die sexualisierte Gewalt der Hamas in der Öffentlichkeit zuerst nicht wahrgenommen. Warum?

Wenn Vergewaltigungen passieren, dauert es, bis nach dem Schock darüber gesprochen wird. Auch wurden viele Menschen nach der Vergewaltigung ermordet. Später kamen Berichte von Überlebenden, die das aus dem Versteck heraus beobachtet hatten, und Beweismittel wie Spuren von Vergewaltigungen an den Körpern der Getöteten. Vergewaltigungen sind kein Kollateralschaden, sondern eine Kriegswaffe.

Die Organisation UN Women hat die sexualisierte Gewalt der Hamas erst zwei Monate nach dem Angriff verurteilt.

Was mich am meisten schockiert, sind die Leugnungen der sexualisierten Gewalt. Aus feministischer Perspektive müsste man doch sagen: Glaubt den Frauen, glaubt den Opfern! Es gibt Untersuchungen der «New York Times», die Beweislage ist offensichtlich. Trotzdem haben internationale feministische Organisationen die Verbrechen geleugnet.

Warum?

Das ist ein ideologischer Schulterschluss mit den Tätern. Ich kann mir das nur durch Antisemitismus erklären. Es fand gleich eine Umkehrung statt. Al-Jazeera berichtete, dass die israelischen Soldaten systematisch vergewaltigt hätten, und sagte vom Massaker am 7. Oktober keinen Ton. Auch im Westen gibt es diesen Schulterschluss. Feministinnen haben auf Demonstrationen Hamas-Slogans skandiert. Das kann man nur tun, wenn man die sexualisierte Gewalt ausblendet.

Nicht nur feministische Organisationen, auch die Philosophin und Autorin Judith Butler betrachtet die Hamas als Befreiungsorganisation. Wie sehen Sie Butlers Position?

Judith Butler hat bereits die Burka als antiimperialistisches Statement hochstilisiert und die Taliban-Terrorherrschaft in Afghanistan verharmlost. Butler hat keine Ahnung vom Leben der Menschen in diesen Regionen. So etwas kann man nur sagen, wenn man die sexualisierte Gewalt nicht sehen will und auch nicht, dass die Hamas von Iran unterstützt wird.

Welche Rolle spielt Iran?

Die letzte feministische Revolution waren die Proteste gegen die Mullahs vor zwei Jahren. Sie wurde brutal niedergeschlagen. Im Irak ist das Gebiet von Bagdad über Mosul bis nach Shingal im Norden in der Hand von Iran-treuen Milizen. Im Grunde kontrolliert Iran den Irak, mit Ausnahme der kurdischen Autonomieregion. Der iranische Terror im Irak ist brutal. Feministinnen werden von Schergen auf offener Strasse erschossen, vor kurzem wurde eine Influencerin ermordet. Nur wenn man das ausblendet, kann man solche Dinge behaupten wie Judith Butler.

Ist es im sicheren Westen einfacher, die Gewalt zu leugnen?

Man lebt hier nicht unter diesem Terror und kann ihn sich deshalb schönreden. Hier werden die eigenen Freundinnen nicht auf der Strasse exekutiert. Man wird als Frau nicht täglich gedemütigt wie in Iran. Jina Amini, deren Tötung durch Sicherheitskräfte am Anfang der Proteste stand, hat ein Kopftuch getragen, das ein bisschen lockerer sass. Sogar das kann zum Tod führen.

Im Mai und April gab es in Hamburg islamistische Demonstrationen. Was löst das Auftreten von Islamisten in Westeuropa bei Ihnen aus?

Ich finde das empörend. Die Organisation Muslim Interaktiv, die in Hamburg aufmarschiert ist, gehört zu Hizb ut-Tahrir. Man kann ihr dabei zusehen, wie sie auf Social Media rekrutiert. Aber sie wissen ganz genau, was sie sagen dürfen und was nicht. Sie arbeiten mit Codes und mit einer Opfererzählung, dass die Muslime angegriffen würden. In Deutschland radikalisieren sich gerade Hunderte von Menschen. Sie finden, es brauche wieder ein Kalifat. Das letzte Kalifat, das wir hatten, war der Terrorstaat des IS.

Wird die Gefahr des Islamismus unterschätzt?

Die zu Hizb ut-Tahrir gehörenden Organisationen haben fast hunderttausend Follower. Auf ihren Accounts zeigen sie Bilder von toten Kindern aus Gaza und fordern gleichzeitig ein Kalifat. Das wird richtig aufgepeitscht. Als der IS stark war, reisten Jugendliche aus Europa in den Nahen Osten. Sie mordeten beim IS und verübten Anschläge in Bagdad, aber auch in Europa. Diese Radikalisierungswelle ist eine Gefahr für unsere Gesellschaft.

Wo müsste man im Kampf gegen Islamismus ansetzen?

Man müsste beispielsweise bei Muslim Interaktiv genauer hinschauen. Die Vorgängerorganisation, also Hizb ut-Tahrir, wurde 2003 verboten, also könnte man die Nachfolgeorganisation auch verbieten. Man muss wachsam sein, was mögliche Terrorangriffe angeht. Es gibt auch Berichte von iranischen Netzwerken, die Synagogen ausgespäht haben. Die Gefahr kommt von mehreren Seiten, nicht nur vom sunnitischen, sondern auch vom schiitischen Islamismus. Genauer hinschauen muss man bei den sozialen Netzwerken, etwa Tiktok. Dort wird mir zwischen harmlosen Videos plötzlich eines hereingespült, auf dem jemand Usama bin Ladins «Letter to America» liest.

Auf Tiktok wird alles auf die gleiche Ebene gestellt: Werbung, Mode, politische Propaganda.

Es gibt auf Tiktok keine demokratische Kontrolle, die Leute können die Videos nicht einordnen. Das ist demokratiegefährdend. Es hat auch eine Weile gedauert, bis wir realisiert haben, dass Russia Today ein Propagandasender Putins ist. Auch bei al-Jazeera sollte man sich klarmachen, dass das katarische Staatspropaganda ist. Ich finde es erschreckend, wenn Kolleginnen, die in grossen Verlagen publizieren, keine deutschen Medien mehr lesen und stattdessen al-Jazeera empfehlen. Katar beherbergt ja die Hamas-Anführer, al-Jazeera hat Usama bin Ladins Videos ausgespielt. Die Propaganda verschiedener Sender, auch der türkischen Staatsmedien mit dem Sender TRT, sickert hier so ein.

Ist der Westen ignorant, was den Nahen Osten betrifft?

Im Westen interessiert man sich nicht für die Details. Das beobachten auch überlebende Jesiden. Niemand schaut auf die umliegenden Länder: Nach Libanon, wo der Hizbullah die Bevölkerung tyrannisiert. Oder nach Syrien unter dem Asad-Regime und den iranischen Milizen. Oder in die kurdische Autonomieregion, wo Iran bombardiert, unter dem Vorwand, man treffe Mossad-Geheimdienstbasen. Es gab keinen Aufschrei, als Asad die Palästinenser im Jarmuk-Camp bombardiert hat. Wenn Asad sie massakriert und nicht Israel, ist man nicht empört. Auch der IS verübt weiterhin Massaker. All das interessiert niemanden, wenn man nicht Israel beschuldigen kann.

Propalästinensische Proteste weiten sich sowohl an amerikanischen als auch europäischen Universitäten aus. Hier eine Demonstration an der University of California.

Amy Katz / Imago

Geht es bei den Pro-Palästina-Protesten also nicht um Menschenrechte, sondern um Israel?

Ich kann es mir nicht anders erklären. Beim Völkermord an den Jesiden war die Türkei ein Transitland für IS-Kämpfer. Warum demonstrierte niemand gegen die Türkei? Oder in Iran: Wie viele Leute wurden seit Beginn der Proteste hingerichtet? Warum gibt es keinen internationalen Protest, wenn Erdogan in Afrin Siedlungen bauen und von islamistischen Milizen verwalten lässt? Dort wurde die kurdische Sprache verboten, jesidische Friedhöfe zerstört, Frauen dürfen nur noch verschleiert und in Begleitung eines Mannes das Haus verlassen. Warum spricht man bei Israel von Apartheid, nicht aber bei der Türkei oder Syrien? Es muss an dieser Projektion auf Israel liegen. Israel-Hass steht in Syrien, in Iran und anderen arabischen Ländern im Lehrplan. Aber es gibt auch von linker Seite eine Projektion. Man imaginiert Israel als weissen Kolonialstaat, was an der Realität komplett vorbeigeht. Natürlich gibt es vieles, was kritikwürdig ist. Aber derzeit sieht man kaum differenzierte Kritik an Israel, sondern eine Dämonisierung. Und so ein Erlösungsglaube.

Erlösung?

Mit den Pro-Palästina-Protesten werden gleich auch noch die Klimafrage und der Feminismus mit Gaza verquickt, alle Probleme sollen damit gelöst werden. Ich war bei einer Premiere im Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Dieses Theater gilt dem BDS neuerdings als zionistisch. Ich sah ein Stück einer kurdischen Regisseurin über Gastarbeiterinnen in Deutschland. Am Eingang standen Leute, in rot gefärbte Tücher gehüllt. Sie warfen sich auf den Boden und riefen «Free Palestine» und «Shame on you».

Ziemlich absurd . . .

Vollkommen absurd. Wenn Linke dem postmigrantischen Maxim-Gorki-Theater von Shermin Langhoff vorwerfen, es sei zionistisch, ist das wirklich der Wahnsinn. Alles muss diesem vermeintlichen Freiheitskampf dienen. Die Störenden verlangen, dass sich alles dem Protest unterordnet. Das hat etwas Totalitäres.

Wäre es nicht die Aufgabe der Kultur, sich gerade nicht in den Krieg hineinziehen zu lassen, sondern ihm etwas entgegenzusetzen?

Kunst ist Differenzierung, Nicht-Eindeutigkeit. Kunst stellt Fragen. Aber die vorgefertigten Wahrheiten der Ideologie sind sehr rasch da. Dabei ändern diese Kulturproteste nichts im Nahen Osten. Und wir haben hier diesen Bekenntniszwang, dem sich alle unterordnen müssen. Die Propaganda hat über die Kunst gesiegt.

Was wäre die Alternative? Aufhören, darüber zu sprechen, was auf der Welt passiert?

Nein. Man kann darüber sprechen, und es gibt auch viele, die das tun. Zum Beispiel Amos Oz, Zeruya Shalev oder Najem Wali. Wali hat vor zwanzig Jahren in einem tollen Buch beschrieben, wie er als Iraker nach Israel geht. Danach durfte er in arabischen Ländern nicht mehr veröffentlichen. Wenn man über die Konflikte sprechen will, muss man genau hinschauen und sich vom Gut-gegen-Böse-Schema lösen. Kunst ist das Gegenteil von Propaganda. Und ich glaube schon, dass der Antisemitismus eine Art Wahn ist.

Sie selbst wurden auch als Zionistin verunglimpft.

Das war bei einem Besuch in Pakistan. Weil ich über die Vergewaltigungen der Hamas geschrieben habe, wurde ich beschuldigt, ich hätte zionistische Propaganda verbreitet.

Sie durften in der Folge nicht beim Literaturfestival auftreten und mussten sich in Sicherheit bringen. Hat der Vorfall Folgen für Sie?

Ich mache alles noch genau wie vorher, schreibe einfach weiter. Aber ich nehme an, dass die Anschuldigung ursprünglich aus Deutschland kam. Irgendjemand muss meine Kolumnen, die auf Deutsch erscheinen, hinter der Paywall der «FAZ» herausgegriffen und in den Online-Übersetzer kopiert haben. Aber die Situation ist beunruhigend. Derzeit steht in Deutschland bei allen Veranstaltungen, bei denen jüdische Autorinnen und Autoren auftreten oder wo es um Antisemitismus geht, die Polizei vor der Tür. Auch so eine neue Realität. In Leipzig, meiner alten Uni, wurde ein Kontrollpunkt errichtet, und jüdische Studierende wurden nicht hineingelassen. Das kann man nicht anders als Antisemitismus nennen.

Was würden Sie den jungen Menschen sagen, die Universitäten besetzen und sich mit den Palästinensern solidarisieren?

Macht euch nicht mit den Tätern gemein. Macht euch nicht mit Regimen wie dem iranischen gemein. In Iran werden Homosexuelle an Kränen aufgehängt, Feministinnen ins Gefängnis geworfen. Macht euch nicht mit der Hamas-Terrorherrschaft gemein, die auch euer Feind wäre, wenn ihr in Gaza leben würdet. Ich würde sagen: Schaut, was ihr für Medien konsumiert. Teilt keine Propaganda von Erdogan oder Katar. Seid auch mit den Zivilisten in Gaza solidarisch, die von ihrer Regierung zum Abschuss freigegeben wurden. Ohne dieses brutale Massaker hätte es das, was in der Folge passierte, nicht gegeben. Ihr könnt euch für die Palästinenser einsetzen, aber verbündet euch nicht mit diesem Terror. Und reflektiert euren Antisemitismus. Es geht auch um eure Freiheit.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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